VON MORITZ BERMPOHL, 10 M

Ich saß letztens vor dem Fernseher, es war spät am Abend, und so „zappte“ ich mit meinem Vater ziellos durch das Programm. Obwohl das „Durchzappen“ wohl eher etwas ist, das meiner, der jüngeren Generation, fremd ist, blieben wir dann doch irgendwann, zwischen Quizshow und Dschungel-Reality, bei einem Film hängen. „The Accountant“ hieß er und darin ging es um einen autistischen Buchhalter mit mathematischer Hochbegabung, der nach einigen Recherchen dem organisierten Verbrechen gehörig auf die Füße tritt und schließlich Auftragsmördern entkommen muss. Nachdem diese ihn umbringen wollen, bleibt ihm schließlich nichts weiter übrig, als (wie es sich für einen anständigen US-Bürger gehört) im Rausch der Selbstjustiz die Verbrecher mit Gewehren, Pistolen und Handgranaten zu meucheln.

Schlagen, Faust, Hand, Stärke

Ein Hollywoodfilm, wie es ihn wahrscheinlich in ähnlicher Weise in Mengen gibt. Interessant war aber ein Satz, über den wir dann beim Anschauen gestolpert sind. In einer Szene spricht der Buchhalter „Christian Wolff“ als kleiner Junge mit seinem Vater über die Entscheidungen, die man denn im Leben so treffen muss. Sein Vater meint, dass die grundlegende Entscheidung die ist, ob man „ein Opfer sein wolle oder nicht“. Die Entscheidung trifft der Junge dann auch, denn in derselben Szene schlägt er dann im Alleingang eine Gruppe Jungen zusammen, die ihn in der Schule einen „Freak“ genannt haben sollen. Kein Opfer also.

Wir kamen dann über diesen Satz, den wir beide recht irritierend und fragwürdig fanden, im Gespräch auf einen inhaltlich ähnlichen Satz, nämlich den, dass „das Leben ein einziger Kampf“ sei. Ideologisch lassen sich beide Aussagen wohl einer gleichen Richtung zuordnen. Aber was ist denn überhaupt der Gedanke, der hinter dieser kämpferischen Sprache steht? Im Grunde ist es einer, der sich schon im 19. Jahrhundert entwickelte: Es ist die Idee des „Sozialdarwinismus“.

Der Sozialdarwinismus entstand aus einer Umdeutung und Verdrehung der wissenschaftlichen Theorie Charles Darwins zur Evolution. Nach ihm ist die Evolution ein „survival of the fittest“. Übersetzt also (und hier ist eine genaue Übersetzung wichtig): Das Überleben einer Gattung, die sich am besten angepasst hat. Konkret hieße das zum Beispiel: Es gibt zwei verschiedene Fische, beide schwimmen in einem Teich. Nun kommt ein äußerer Umstand hinzu, der zum Überleben eine Anpassung nötig macht. So könnte es zum Beispiel ein Raubfisch plötzlich auf sie abgesehen haben oder die Wassertemperatur wird wärmer oder Ähnliches. Fisch 1 ist durch genetischen Zufall an den äußeren Umstand angepasst, wie zum Beispiel eine besonders schnelle Schwimmtechnik, um dem gefräßigen Jäger zu entkommen. Fisch 2 ist nicht oder nicht genügend angepasst und wird gefressen. Wer gefressen wird, kann sich nicht fortpflanzen und kann so auch nicht sein Erbgut weitergeben. Fisch 1 wird nicht gefressen, kann also so sein Erbgut weitergeben, wodurch die Anpassung, die ihn vorher hat entkommen lassen, auch an die folgenden Generationen weitergegeben wird. Fisch 1 und seine Nachkommen werden also nicht durch diesen Raubfisch aussterben, Fisch 2 schon.

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Charles Darwin

Der Sozialdarwinismus hat allerdings aus dem „Überleben der am besten angepassten Gattung“, das „Überleben des Stärkeren“ gemacht. Nach dieser Idee sollte der Mensch nach dem Konzept der „natürlichen Auslese“ handeln. Moral und Werte sollten sich aus dieser naturwissenschaftlichen Theorie ergeben, so die Sozialdarwinisten. Nun ist es allerdings so, dass die Existenz des Menschen schon lange nicht mehr eine ist, in der das „Recht“ des Stärkeren in irgendeiner Weise sinnvolles, gesellschaftliches Zusammenleben organisieren kann. Spätestens als die ersten Menschenaffen vor mehreren zehntausend Jahren so etwas wie eine Gemeinschaft entwickelten, war das Zusammenleben der Individuen kein „Kampf“ mehr (auch wenn die einzelnen Gemeinschaften sich danach noch oft genug bekriegt haben, aber das ist ein etwas anderes Thema). Gerade weil der Mensch so etwas Wunderbares wie ein Gewissen, eine Moral und einen Verstand hat, ist es doch wenig schlüssig, von einem Naturgesetz das moralische Handeln des Einzelnen abzuleiten, besonders wenn eben kein Zwang zum Handeln besteht. Nur weil sich etwas durch die Naturwissenschaft als objektiv gegeben feststellen lässt, ist die alleinige Existenz dieses Etwas noch kein Argument, dieses Etwas zu nutzen. Ein Beispiel: Nur weil es in einem Streit theoretisch die Möglichkeit gibt, dass ich dem anderen eine runterhaue, um so die Diskussion zu beenden, heißt das nicht, dass ich diese Möglichkeit auch nutzen sollte. Die Frage der Existenz dieser Möglichkeit ist eine andere, als die moralische Frage, ob ich es auch tatsächlich tun sollte. Von der Existenz lässt sich nicht auf die Moral schließen, nicht vom Sein auf das Sollen. Diese Art von Konsequenz wird in der Philosophie auch als „naturalistischer Fehlschluss“ bezeichnet, ein Begriff, der 1903 vom englischen Philosophen George Edward Moore in seinem Werk „Principia ethica“ zum ersten Mal verwendet und beschrieben wurde.

Die Sozialdarwinisten haben es trotzdem gemacht und haben auch gleich eine Menge Anhänger gefunden. So auch die, die unter Benito Mussolini 1922 in Italien die Macht ergriffen und somit den ersten Staat errichteten, den man als faschistisch bezeichnen kann. Die Ideen vom Leben als eine Art Kampf, einem Wettstreit der Starken, der sich nach Art einer „natürlichen Auslese“ gestaltet, lässt sich sowohl in der Ideologie der Faschisten Italiens wie auch ab 1933 im Nationalsozialismus in Deutschland wiederfinden. Zu dieser Idee des Sozialdarwinismus kamen auch noch die Rassentheorien der damaligen Zeit hinzu, die Menschen in verschiedene Gruppen einteilten, wodurch sich überlegene und unterlegene „Rassen“ ergeben würden. Kombiniert mit der Idee, dass alles ein einziger Kampf sei, haben die selbsternannten, deutschen „Arier“ schließlich sechs Millionen Juden umgebracht, was ja, so der Sozialdarwinismus, die einzig richtige Schlussfolgerung ist, wenn man sich im „Kampf des Lebens“ als überlegene „Rasse“ behaupten will.

Nationalsozialismus, Faschismus

Fairerweise sollte man sagen, dass nicht jeder Sozialdarwinist Massenmörder und Nazi ist, was diese Ideologie aber weder weniger interessant noch per se unproblematisch macht. Die Nationalsozialisten stellten die extremste Ausprägung dieser Ideologie dar. Der seichtere Teil der Strömung ist vielmehr in der Gesellschaft angekommen als der radikale rechte Rand.

Nochmal vom Historischen weg und zurück in die Gegenwart, zu Buchhalter Christian Wolffs. An einigen anderen Stellen im Film lässt sich auch eine rechte Gesinnung, die sich mit dem Sozialdarwinismus vereinen lässt, wiederfinden. Da wäre zum einen eine recht klare Rollenverteilung der Geschlechter. An mehreren Stellen werden Frauen als das „schwache Geschlecht“ charakterisiert. Der Frau, die der Buchhalter ganz süß findet, wird dort dann in einigen Szenen von diesem heroisch, mit Waffengewalt und manchmal auch mit bloßen Fäusten, das Leben gerettet. In einer anderen Szene lässt sie sich mit großen Augen vom smarten Mathegenie Christian Wolff noch einmal erklären, wo denn der mathematische Fehler in der Menge von Zahlen stecke, die er in der Nacht zuvor durchgewälzt hat. Eine Aussage lässt sich auch hier wiederfinden: Frauen sind doch ohnehin blöder als die Männer, deswegen brauchen diese auch keine Mathematik zu können. Ich würde das als Sexismus bezeichnen. Die Rollenverteilung ist für Hollywood nichts Ungewöhnliches: In vielen anderen großen Filmen lässt diese sich auch wiederfinden, wenn man nur anfängt, darauf zu achten.

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Zudem gab es da noch einen ganz interessanten Schnitt, den ich als latent rassistisch interpretieren würde. Es kommt im Film zu einer Szene, in der drei breit gebaute Auftragsmörder einem Ehemann versprechen, nachdem sie ihn ermordet haben, nicht auch noch seine Ehefrau zu vergewaltigen. Wie lieb. Die Kamera schneidet, nachdem der Anführer der Drei genau das verspricht, auf seine beiden Kollegen. Die beiden schauen sich nur grinsend an, als wollten sie sagen: „Ja, ja, Vergewaltigung, das kennen wir.“ Dann lachen sie. Obwohl die Stelle nur einige Sekunden lang ist, lässt sich etwas Bemerkenswertes feststellen: Die beiden sind ziemlich eindeutig arabischen Aussehens. Das Klischee des Ausländers, des Arabers als Vergewaltiger, wird hier mit ziemlicher Eindeutigkeit bedient, eines, das sich natürlich auch tagespolitisch wiederfinden lässt.

„Aber ist das nicht alles Überinterpretation? Ist es nicht einfach nur ein Actionfilm? Einfach nur harmloses Unterhaltungskino?“, ließe sich jetzt fragen. Ich glaube nicht.

Es ist erstaunlich, was bei einer ideologischen Untersuchung eines Filmes so alles ersichtlich wird. Gerade weil Film ein Massenmedium ist, halte ich ihn für besonders geeignet für eine ideologiekritische Betrachtung. Häufig wird ein Film nur gedankenlos konsumiert und mit wenig Reflektion aufgenommen. Die viel spannendere Art des Filmeschauens ist aber gerade die, genau das nicht zu tun. Nicht das „Berieselnlassen“ vor dem Bildschirm, sondern das aktive, geistige Auseinandersetzen mit dem, was man sich da gerade anschaut. Jeder Regisseur, jedes Kamerateam und jede Filmcrew hat in einem kreativen Rahmen eine Entscheidungsfreiheit. Welche Entscheidung in diesem Rahmen getroffen wird zur Inszenierung und Darstellung eines Inhaltes, das entscheidet sich an der Ideologie des Kreativen, desjenigen, der die Entscheidung schließlich trifft. Und genau dieser Entscheidungsprozess lässt sich analysieren, auseinandernehmen und deuten.

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Vielleicht lohnt es sich also doch, auch öfters mal an einem Samstagabend ziellos durch die Sender zu klicken, nicht mit dem Ziel einer kopflosen Beschallung, sondern dem, das eigene kritische Denken ein wenig zu üben? In Jogginghose und auf dem Sofa sitzend kann man auch schon mit der Ideologiekritik anfangen!