Es ist eine Geschichte von Rache, Verrat und Mord. Eine der tragischsten und blutigsten antiken Erzählungen überhaupt – und das will schon etwas heißen. Dennoch transportiert der Mythos der Medea noch etwas anderes als bloß antiken Wahnsinn und Blutdurst, besonders in der Tragödie des Euripides, die seit 23. Februar 2020 im Residenztheater München aufgeführt wird, von Karin Henkel neu inszeniert. Das Erste, was beim Betreten des Theaters auffällt, ist das Wasser. Die gesamte Bühnenkonstruktion ist sehr komplex und funktioniert sehr gut mit ihrer Kombination aus einem mit Wasser bedeckten Bühnensteg, aus Laserstrahlen, die immer wieder optische Illusionen und unterstützt durch Nebelmaschinen absurde Raumstauchungen und -dehnungen erzeugen, und aus einem kleinen, vor und zurück bewegbaren offenen „Kinderzimmer“ über der Bühne. Faszinierende Farben – die meiste Zeit ein giftiges Gelb – schimmern, vom Wasser reflektiert, durch den ganzen Saal, immer wieder wechselt der Lichtfokus auf der Bühne und erzeugt so ein neues Stimmungsbild. Doch bei faszinierenden Bühneneffekten bleibt es nicht. Karin Henkel und ihr Ensemble, zu dem ein ganzer Mädchenchor und zwei enthusiastische Jungdarsteller zählen, haben eine Message, die Medea, gespielt von Carolin Conrad, regelmäßig verständnisheischend ins Publikum ruft: „Niemand halte mich für schwach!“, schreit sie, die Vertriebene, Gejagte und Ausgegrenzte, mit brechender Stimme gut achtmal ins Publikum und es scheint, als mache sie ernst. Immer wieder exerziert sie ihr scheinbar wahnsinniges Handeln rational durch und scheint so auch sich davon überzeugen zu wollen, noch immer Herrin der Lage zu sein.
Als sie dann am dramatischen Höhepunkt des Stückes im dritten Anlauf ihre beiden Söhne in deren Kinderzimmer ermordet, lässt einen das erschreckend kalt. Da ist nichts mehr übrig von der Empathie und Zuneigung, die man hatte, als die beiden Jungen einen zu Anfang in die Vorgeschichte und tragische Lovestory („Würg!“) von Iason und Medea einführten. Alles, was bleibt, ist eine Frau, die ihrer persönlichen Rache mehr Bedeutung zumisst als dem Leben ihrer eigenen Kinder. Als Zuschauer, der zusehen konnte, wie Medea allen voran von der grausamen Königstochter Krëusa (Linda Blümchen) gedemütigt wurde („Es soll ja lustig sein!“), rechtfertigt man unterbewusst den Kindermord. Dabei setzt der Mädchenchor immer wieder dramatische Akzente, die sich nahtlos in das Stück einweben und bei deren Wiederholung in anderen Szenen einem schon mal der kalte Schauder den Rücken hinunterhuscht, da man nun im neuen Kontext auf einmal ein teilweise wirklich gruseliges Déjà-vu hat. „Ach wäre doch nie die Argo…“ ist dabei ein wichtiges Leitmotiv, das sich besonders zu Beginn des zweiten Akts förmlich in die Gedanken des Zuschauers einbrennt, bis man es selbst mitflüstert. Der arrogante Iason stellt hier den Verführer dar, der Medea schamlos ausgenutzt hat und nun, in Korinth angekommen, eine Heirat mit der dortigen Prinzessin anstrebt und seinen Betrug schon zu Anfang des Stückes rechtfertigen möchte („An all dem habe ich keine Schuld!“). Dabei hält der von Michael Wächter dargestellte Held der griechischen Antike eine eingebildete und unnahbare Fassade aufrecht, die nur dann leicht ins Bröckeln zu geraten scheint, als er seine beiden Söhne zum, wie er noch nicht weiß, letzten Mal in den Arm nimmt. Leider scheint es oft so, als sei der Mythos um den Feminismus herumkonstruiert worden und nicht umgekehrt, was das gesamte Bild einer aus Rache mordenden Medea teilweise etwas hölzern wirken lässt. Der bei Euripides zentrale innere Zwiespalt seiner prestigeträchtigsten und kontroversesten Figur zwischen Rachegelüsten und Mutterliebe, zwischen Emotionalität und Rationalität wird zwar teilweise thematisiert, fällt aber letztendlich trotz der fantastischen schauspielerischen Leistung des Ensembles nicht wirklich ins Gewicht, wenn man in der finalen Szene Medea mit ihren beiden neuen Töchtern und Ehemann Aigeus glücklich aus dem Kinderzimmer ihrer eben noch blutüberströmten Söhne winken sieht.
Alles in allem trotzdem eine äußerst gelungene und auch stellenweise emotional sehr bewegende, zeitgemäße Aufarbeitung des antiken Klassikers.

Die aufwendige Bühnenanlage das Residenztheaters

Timon Siniosoglou, 10c